Im Juni bin ich abgetaucht. In die Vergangenheit. In meine und die vom geteilten Deutschland. Ich habe Brigitte Reimanns Geschwisterbriefe gelesen. Und parallel alles, was ich in meinem Bücherschrank außerdem von ihr finden konnte.
Und das ist so ziemlich alles, was je von ihr erschienen ist: Franziska Linkerhand, ihre Tagebücher, Briefwechsel mit Christa Wolf, ihren Eltern, ihren Freundinnen. Brigitte Reimanns einziger, jedoch unvollendeter Roman Franziska Linkerhand war mein Abschlussprojekt im Studium. Ich habe ihn sicher 10 – 12 mal gelesen und konnte die ca. 600 Seiten nahezu auswendig. Genauso ihre Tagebücher. Ich habe recherchiert in Hoyerswerda und Neubrandenburg – wo sie gelebt hat. Bin damals ganz in ihre Welt eingetaucht. Und das ist mir genauso jetzt wieder passiert.
Brigitte Reimann (1933-73) ist wahrscheinlich nicht jedem ein Begriff. Eine DDR-Schriftstellerin. Jung verstorben. Mit Ende 20 war sie eine bekannte Schriftstellerin. Eine ganze Literaturrichtung wurde nach einer ihrer Erzählungen benannt – Ankunftsliteratur. Sie erhielt Preise und Auszeichnungen, war im Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes der DDR.
1963 erschien ihre Erzählung „Die Geschwister“. Sie handelt von einer durch das geteilte Deutschland auseinandergerissenen Familie – inspiriert von ihrer eigenen Familie. Reimanns ein Jahr jüngerer Bruder ging in den Westen, äußerte starke Kritik an der DDR und auch an der Einstellung Brigitte Reimanns zum politischen System.
Reimann beginnt zu dieser Zeit ihren Roman „Franziska Linkerhand“, an dem sie 10 Jahre schreibt und ihn aufgrund einer Krebserkrankung doch nicht beenden kann. Ihre Einstellung verändert sich, sie wird zunehmend kritischer, schreibt auch den Roman immer kompromissloser und ignoriert Tabus des öffentlichen Diskurses. Er erscheint posthum – an kritischen Stellen gekürzt. Obwohl die Aussage des Romans durch die Streichungen stark eingeschränkt war, wurde das Buch ein großer Erfolg – besonders bei der jüngeren Generation.
In ihren Tagebüchern und Briefwechseln kann ihr Kampf um/mit diesem Roman nachvollzogen werden. Wenn man – wie ich – schon fast alles von ihr gelesen hat, was bringt dieser neue Briefwechsel? Brigitte Reimann war das älteste von vier Kindern. Nachdem alle das Elternhaus verlassen hatten, gab es einen regelmäßigen Briefwechsel zwischen ihnen und den Eltern. Der Vater Brigitte Reimanns verschickte rund 200 Familienrundschriebe. In ihnen fasst er die Briefe der Geschwister zusammen und sendet sie an die Kinder. So waren alle immer über sämtliche Familienmitglieder informiert.
Diese oft sehr persönlichen Schreiben geben einen detaillierten Einblick in den Alltag der DDR – Mangelwirtschaft, Wohnungsnot, Arbeitseinsätze. Was das Buch aber besonders interessant macht, ist vor allem der Briefwechsel mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Lutz. Er ist mit seiner Familie in den Westen ausgewandert. Ihre verschiedenen politischen Positionen prallen aufeinander. Es gibt Streit, Funkstille und am Ende von Reimanns Leben wieder eine zaghafte Annäherung, vor allem durch ihre zunehmend kritische Einstellung dem Staat gegenüber. Die Zerrissenheit einer Familie, die Sehnsucht nacheinander, hart erkämpfte Zusammenkünfte, die im Streit enden und die Geschwisterliebe, die am Ende alles überwindet, werden durch diese Briefe greifbar.
Neben dem Persönlichen finden sich natürlich immer wieder Anmerkungen zu Reimanns Arbeit am Roman, die auch bei Kenntnis aller anderen Veröffentlichungen, interessant zu lesen sind.
In den letzten Jahren ihres Lebens ist selbstverständlich auch ihre Krankheit Thema in den Schreiben. In den Briefen an ihre Geschwister ist sie ehrlicher, verletzbarer und ängstlicher als in allen anderen Briefwechseln.
Insgesamt ist es ein sehr berührendes Familienporträt einer heutzutage fast vergessenen Schriftstellerin.
Brigitte Reimann: Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe. Aufbau-Verlag, 978-3-351-03736-9