Wusstet ihr, dass wenn man stirbt und das Herz aufhört zu schlagen, das Gehirn noch ca. 10 Minuten weiter funktionieren kann? Das haben Studien bewiesen. 10 Minuten, um auf sein Leben zurückzublicken. Elif Shafak lässt das ihre Protagonistin in ihrem Roman „Unerhörte Stimmen“ tun, der im englischen Original ganz passend „10 Minutes 38 Seconds in This Strange World“ heißt. Aber auch der deutsche Titel „Unerhörte Stimmen“ ist sehr gut gewählt, wie ich finde. Im Roman geht es um Figuren am Rande der Gesellschaft, die Unangepassten, Geächteten, die Unerhörten.
Der Roman beginnt mit dem Tod von Leila. Tequila Leila, eine Prostituierte in Istanbul, ist ermordet worden. Ihr Herz schlägt nicht mehr, aber ihr Gehirn lässt ihr Leben nochmal Revue passieren. Die Geburt in der türkischen Provinz mit einem religiösen, den alten Traditionen verhafteten Vater. Als Mädchen abgeschoben an den Rand der Familie, missbraucht und ausgeschlossen, flüchtet sie früh in die große Stadt. Istanbul – ihr Sehnsuchtsort. Aber auch dort stößt sie auf Gewalt, Ausbeutung und Misshandlung. Als Prostituierte lebt sie am Rand der Gesellschaft. Aber sie hat Freunde. Fünf gute Freunde, die zur Familie für sie werden. Deren Schicksale werden in kurzen Kapiteln in die Lebensgeschichte Leilas eingeflochten. Die Freundschaften geben der Geschichte etwas positives. Trotz des Leids gibt es immer wieder Hoffnungsschimmer, Glück und Liebe.
Und ihre Freunde sind auch nach ihrem Tod für sie da. Leila bekommt als Prostituierte keine islamische Beerdigung. Sie wird auf dem Friedhof der Geächteten (der auch real in einem Badeort nahe Istanbul existiert) begraben. Ihre Freunde wollen das nicht zulassen. Im zweiten Teil des Buches wird ein etwas groteskes Abenteuer der fünf Freunde beschrieben, die Leila eine würdevolle Ruhestätte wünschen.
Die Ängste, Leiden und Probleme der sehr verschiedenen Figuren, die ebenfalls alle am Rande der türkischen Gesellschaft existieren, prallen dabei aufeinander, lösen Konflikte aus. Die Liebe zu Leila gibt ihnen jedoch einen starken Zusammenhalt, sie ergänzen und unterstützen sich und werden zu Helden für Leila.
So ist der Roman über doch so tragische Figuren trotz allem sehr positiv. Auch wenn die ganze Geschichte vom Stillstand, von der Rückwärtsgewandtheit der türkischen Gesellschaft geprägt ist. Die Autorin, die seit langem in London lebt und in all ihren Romanen die Missstände der türkischen Politik thematisiert, bleibt auch in diesem Buch nicht unpolitisch. Die Lage der Frauen steht dabei im Mittelpunkt. Durch die fünf Freunde rücken jedoch auch verschiedene Minderheiten in den Fokus.
Das sehr lesenswerte Buch ist bei Kein & Aber erschienen und hat 432 Seiten. Elif Shafak: Unerhörte Stimmen, ISBN: 978-3-0369-5790-6